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Mehrfachbehinderungen, Syndrome

Mehrfachbehinderungen

Das Zusammentreffen mehrerer Schädigungen wird als Mehrfachbehinderung bezeichnet und wiegt für die betroffene Person oft schwerer als die Summe der einzelnen Behinderungen.

Tabelle 1 zeigt für die drei häufigsten primären Behinderungen (Mobilitäts-, Seh- und Hörbehinderung) die Wahrscheinlichkeit des Auftretens weiterer funktioneller Einschränkungen. Die Zahlen geben an, wie viele von 1000 Personen mit einer bestimmten Primärbehinderung von einer der ausgewählten zusätzlichen Einschränkungen betroffen sind.

Von 1.000 Personen mit einer Behinderung ...... sind zusätzlich eingeschränkt bei/durch
... der Mobilität ...... des Sehens ...... des Hörens ...
1.000700530Mobilität
1501.000160Sehen
2303801.000Hören
320220200Rheuma
203010Epilepsie
270150170Herzkrankheiten

Tabelle 1: Auftreten von Mehrfachbehinderungen [1].

Syndrome

Unter einem Syndrom[1] wird das Zusammentreffen mehrerer Krankheitszeichen (Symptomen) verstanden, die für ein bestimmtes Krankheitsbild charakteristisch sind. Dabei ist die Krankheitsursache (Ätiologie) zwar meist einheitlich, der Krankheitsverlauf (Pathogenese) jedoch unbekannt.

  1. Down-Syndrom
    Das Down-Syndrom[2] (auch Trisomie 21 oder Morbus Langdon-Down)[3] entsteht durch eine chromosomale Störung, bei der bei der Befruchtung oder einer der nachfolgenden Zellteilungen ein zusätzliches drittes Chromosom 21 (daher Trisomie 21)[4] in den Körperzellen auftritt und von da an bei jeder weiteren Zellteilung weitergegeben wird[5]. Das Down Syndrom führt zu einer Fehlentwicklung fast sämtlicher Gewebe und Organe des heranreifenden Organismus. Man unterscheidet zwei Typen von Down-Syndrom:

    • Freie (vollständige) Trisomie 21
      Das zusätzliche Chromosom 21 existiert bereits als 24. Chromosom in einer der Keimzellen und ist daher als freies drittes Chromosom 21 in allen Körperzellen enthalten (Abbildung 1).

    • Mosaik-Down-Syndrom
      Samen- und Eizelle enthalten die korrekte Zahl von 23 Chromosomen. Der Chromosomen-Fehler tritt erst bei einer der ersten Zellteilungen auf. Daher gibt es sowohl Zellen mit 46 als auch solche mit 47 Chromosomen. Diese Form tritt bei etwa 1% der Kinder mit Down-Syndrom auf (Abbildung 2).

    Chromosomen-Weitergabe bei Down-Syndrom (vollständige Trisomie 21).

    Abbildung 1: Chromosomen-Weitergabe bei Down-Syndrom (vollständige Trisomie 21).

    Chromosomen-Weitergabe bei Mosaik-Down-Syndrom. Die weiß dargestellte Zelle mit 45 Chromosomen ist nicht lebensfähig und stirbt ab.

    Abbildung 2: Chromosomen-Weitergabe bei Mosaik-Down-Syndrom. Die weiß dargestellte Zelle mit 45 Chromosomen ist nicht lebensfähig und stirbt ab [9].

    Abgesehen von Deformationen und Veränderungen im Habitus sind folgende Symptome für das Down-Syndrom charakteristisch:

    • Geistige Behinderung unterschiedlichen Ausmaßes.
    • Sprechstörung (hoher Gaumen, große Zunge, Zahnfehlstellungen).
    • Muskelhypotonie.
  2. Parkinson-Syndrom
    Das Parkinson-Syndrom[6] ist die häufigste neurologische Erkrankung des fortgeschrittenen Alters, von der vorwiegend Männer betroffen werden. Es handelt sich um ein extrapyramidales Syndrom zufolge einer Degeneration von Neuronen im Mittelhirn (Substantia nigra) [2].

    Die mit dem Parkinson-Syndrom verbundenen Symptome sind in erster Linie:

    • Leise und monotone Sprache
    • Verlangsamung und Verkürzung von Bewegungen und Bewegungsstörungen (langsamer, schlurfender Gang, kleine Handschrift, Fallneigung)
    • Steifigkeit der Muskulatur
    • Ruhetremor (Zittern der Muskulatur in Ruhestellung mit 4 bis 6 Bewegungen pro Sekunde). Bei willkürlichen Bewegungen setzt der Tremor aus, die Handschrift ist daher nicht zittrig.
  3. Gregg-Syndrom
    Gregg-Syndrom (Rötelnembryopathie, Embryopathia rubeolosa), Fehlbildungssyndrom nach Rötelninfektion der Mutter während der ersten drei Schwangerschaftsmonate [2]. Die dabei auftretenden Anomalien richten sich nach dem Zeitpunkt der Rötelninfektion (Tabelle 2).

    SchwangerschaftsmonatSchwerpunkt der AnomalienAuftretende Symptome
    1Augenkongenitaler Grauer Star (Cataracta congenita)
    fakultativer Grüner Star (Glaukom)
    kleine Augen (Mikrophthalmie)
    Augenhintergrundveränderungen (pseudo-RP)
    2HerzHerzscheidewanddefekte
    ZNSgeringes Hirnvolumen (Mikrozephalie)
    Retardierung, Epilepsie
    Bewegungsstörungen
    3Innenohrsensorineurale Schwerhörigkeit

    Tabelle 2: Anomalien bei Gregg-Syndrom [2].

  4. Rett-Syndrom (RS)
    Das Rett-Syndrom[7] ist eine bisher nur bei Mädchen beobachtete, wahrscheinlich X-chromosomal-dominant vererbte Erkrankung, in deren Verlauf es neben Hirnatrophie (Schwund des Nervengewebes im Gehirn) auch zu anderen Veränderungen im Gehirn kommt. Die Manifestation erfolgt zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 4. Lebensjahr. Die Auswirkungen sind:

    • Epilepsie
    • Verzögerungen im Wachstum
    • Verlust bereits erworbener Fähigkeiten
    • Stereotype Handbewegungen (waschend, knetend)
    • Gangstörungen (breitbeinig, steif)
    • Apraxie (betrifft auch Sprechorgane und Augenbewegungen)
    • Verlust der verbalen Kommunikation
  5. Usher-Syndrom
    Das Usher-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung mit den wesentlichen Symptomen:

    • Progrediente Schwerhörigkeit im Kinder- und Jugendalter
    • Retinopathia pigmentosa (Retinitis pigmentosa), kommt Jahre später hinzu
    • Ausfall des Nervus vestibularis (Teil des Nervus vestibulocochlearis = VIII. Hirnnerv, der das Gleichgewichtssystem (Vestibularapparat) innerviert.
    • Epileptische Anfälle (möglich)

    Das Usher-Syndrom ist eine der Hauptursachen für Taubblindheit.

  6. Wachkoma (PVS) und Locked-in Syndrom
    Mit Wachkoma (Apallisches Syndrom, Coma vigile, Persistent Vegetative State – PVS) wird ein klinischer Zustand bezeichnet, bei dem sich der Patient / die Patientin in einer vollständigen Wahrnehmungslosigkeit über sich und seine / ihre Umwelt befindet. Die autonomen Funktionen des Hypothalamus und des Hirnstammes bleiben vollständig oder teilweise erhalten. Ein EEG ist vorhanden und im weiteren Verlauf normal. Allerdings fehlt bei visueller Stimulation die sonst übliche Blockierung der alpha Wellen. Die Patienten und Patientinnen weisen einen natürlichen Schlaf-Wach-Zyklus auf. Trotzdem gibt es keine Anzeichen eines reproduzierbaren, zielgerichteten oder willentlichen Verhaltens als Reaktion auf visuelle, taktile, auditive oder noxische Reize [3].

    Das Wachkoma ist deutlich von verwandten Zuständen wie Locked-in Syndrom, Koma, Gehirntod oder schwerer Demenz zu unterscheiden (siehe dazu die auch Zusammenstellung in Tabelle 3):

    • Koma: Tiefe Bewusstlosigkeit, die länger als eine Stunde andauert.
    • Gehirntod: Permanentes Fehlen jeglicher Gehirntätigkeit, auch der des Hirnstammes.
    • Locked-in Syndrom: Bewusstsein und Wahrnehmung ist vorhanden, kann aber nicht erwidert werden. PET Scans zeigen wesentlich höhere metabolische Werte als bei PVS.
    • Demenz: Progressiver, multidimensionaler Verlust von kognitiven Funktionen. Ein Fortschreiten bis in einen PVS als Endstadium ist möglich.
    ZustandSelbstwahrnehmungSchlaf-Wach-ZyklusMotorische FunktionenWahrnehmung des LeidensAtmungEEG AktivitätGehirn-Stoffwechsel
    Wachkomafehltintaktkeine kontrollierte Bewegungneinnormaldelta oder theta, manchmal alphaum 50% oder mehr reduziert
    Komafehltfehltkeine kontrollierte Bewegungneinreduziert, verschiedendelta oder thetaum 50% oder mehr reduziert
    Gehirntodfehltfehltkeine oder nur spinale Reflexeneinfehltkein EEGfehlt
    Locked-in Syndromvorhandenintaktvollständige Lähmung, nur Augenbewegungenjanormalnormal oder geringe Abweichunggeringfügig reduziert
    Demenzvorhanden, geht später verlorenintaktunterschiedlich, progressive Abnahmeja, jedoch abnehmendnormalverlangsamtunterschiedlich reduziert

    Tabelle 3: Wachkoma (PVS) und verwandte Zustände [3].

    Bei den Ursachen, die zu einem Wachkoma führen können, unterscheidet man zunächst zwischen akuten Ursachen auf der einen und kongenitaler bzw. degenerativen Ursachen auf der anderen Seite [3].

    Die akuten Ursachen können sowohl einen traumatischen Hintergrund (Schädelhirntrauma z. B. durch Unfall oder Schussverletzung) als auch nicht traumatische Hintergründe (Hypoxie durch Kreislaufstillstand oder Ertrinken, Gehirnschlag, Meningitis, Tumore oder Vergiftungen) haben. Die statistische Entwicklung von Patienten / Patientinnen mit PVS 12 Monate nach einer akuten Ursache ist in Abbildung: Modell für die Produktion gesprochener Sprache dargestellt. Zu beachten ist, dass die Prognosen sowohl zwischen traumatischen und nicht-traumatischen Auslösern als auch zwischen Erwachsenen und Kindern große Unterschiede aufweisen. Abbildung: Modell für die Produktion gesprochener Sprache zeigt außerdem für jenen Teil der Personen, die innerhalb eines Jahres aus dem PVS erwachen, die Wahrscheinlichkeit und den Grad einer zu erwartenden Behinderung [4, 3].

    Prognose für Menschen mit PVS nach 12 Monaten; für den Anteil, der wieder das Bewusstsein erlangt, ist der Grad der zu erwartenden Behinderungen angegeben.

    Abbildung 3: Prognose für Menschen mit PVS nach 12 Monaten; für den Anteil, der wieder das Bewusstsein erlangt, ist der Grad der zu erwartenden Behinderungen angegeben [9, 10].

    Zu den nicht-akuten Ursachen für ein Wachkoma zählen einerseits zahlreiche Missbildungen im Gehirn wie Anenzephalie (Fehlen wesentlicher Gehirnteile), Mikroenzephalie (kleines Gehirn), Hydranenzephalie (Umbildung des Großhirns in eine Flüssigkeitsblase) und angeborener Hydrozephalus. Andererseits können bei Erwachsenen Erkrankungen wie Alzheimer, Creutzfeldt-Jacob, Chorea Huntington, Parkinson oder Multi-Infarkt-Demenz in einen PVS führen. Bei Kindern können Gangliosidosen (Lipidspeicherkrankheiten) eine Ursache für ein Fallen ins Wachkoma darstellen [3].

    Die Häufigkeit des PVS wird sehr unterschiedlich angegeben und schwankt zwischen 25 bis 60 auf 1  Mio. EW. Nur der geringere Teil hat traumatische Ursachen [5]. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass eine eindeutige Diagnose oft sehr schwer ist und Fehldiagnosen bis zu 60% der untersuchten Fälle ausmachen können [6].

    Beim Locked-in Syndrom sind die Patientinnen und Patienten bei Bewusstsein, aber ohne jegliche Bewegungsmöglichkeit. Bei der „klassischen“ Form, bleiben die vertikalen Augenbewegungen und der Lidschlag erhalten, und können mit geeigneten Interfaces für Kommunikationszwecke verwendet werden. Beim „totalen“ Locked-in Syndrom fehlen auch diese Bewegungen und eine Kommunikation ist – wenn überhaupt – nur über die Auswertung des EEG (Brain Computer Interface) möglich.

    Als Ursachen für Locked-in Syndrom werden genannt: fortgeschrittene ALS, Hirnstamm Infarkt, Infarkt in der Brücke (Pons, Verbindung der beiden Gehirnhälften), beidseitiger Infarkt der inneren Kapsel (Capsula interna – tief liegender Teil des Gehirns), Tumore, Enzephalitis (Entzündung des Gehirns) und Schädelhirntrauma [7, 8].

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Zitierung

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  • Autor: Dr. Wolfgang L. Zagler
  • Titel: Rehabilitationstechnik
  • Datum: 1. März 2008
  • Ort: Wien, Österreich
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  • Kapitel URL:

Fußnoten

  1. Syndrom: von grie. mitlaufend, begleitend. ↩︎

  2. John L. Down, englischer Arzt, 18281896. ↩︎

  3. Die frühere übliche Bezeichnung „Mongolismus“ gilt heute als diskriminierend und soll daher vermieden werden. ↩︎

  4. Neben der Trisomie 21 sind noch andere autosomale Trisomien mit Beteiligung der Chromosomen 3, 9, 10, 12, 13 und 18 bekannt. Bei den Geschlechtschromosomen kann es zu genosomalen Trisomien (XXY und XYY) kommen. ↩︎

  5. Dass eine Chomosomenstörung die Ursache für das Down-Syndrom ist, wurde zwar schon um 1930 vermutet, der Beweis dafür konnte aber erst 1959 vom Franzosen Jérôme Lejeune erbracht werden. ↩︎

  6. James Parkinson, englischer Chirurg und Paläontologe, 17551824. ↩︎

  7. Andreas Rett, österreichischer Kinderarzt. ↩︎


Abkürzungsverzeichnis

ALS
Amyotrophe Lateralsklerose
EEG
Elektroenzephalographie
EW
Einwohner
PET
Positronen-Emissions-Tomographie
PVS
Persistent Vegetative State
RS
Rett-Syndrom
ZNS
Zentralnervensystem
z. B.
zum Beispiel

Abbildungsverzeichnis

  • Abbildung 1: Chromosomen-Weitergabe bei Down-Syndrom (vollständige Trisomie 21).

  • Abbildung 2: Chromosomen-Weitergabe bei Mosaik-Down-Syndrom. Die weiß dargestellte Zelle mit 45 Chromosomen ist nicht lebensfähig und stirbt ab [9].

  • Abbildung 3: Prognose für Menschen mit PVS nach 12 Monaten; für den Anteil, der wieder das Bewusstsein erlangt, ist der Grad der zu erwartenden Behinderungen angegeben [9, 10].


Tabellenverzeichnis


Quellenverzeichnis