Mehrfachbehinderungen, Syndrome
Mehrfachbehinderungen
Das Zusammentreffen mehrerer Schädigungen wird als Mehrfachbehinderung bezeichnet und wiegt für die betroffene Person oft schwerer als die Summe der einzelnen Behinderungen.
Tabelle 1 zeigt für die drei häufigsten primären Behinderungen (Mobilitäts-, Seh- und Hörbehinderung) die Wahrscheinlichkeit des Auftretens weiterer funktioneller Einschränkungen. Die Zahlen geben an, wie viele von Personen mit einer bestimmten Primärbehinderung von einer der ausgewählten zusätzlichen Einschränkungen betroffen sind.
Von Personen mit einer Behinderung ... | ... sind zusätzlich eingeschränkt bei/durch | ||
---|---|---|---|
... der Mobilität ... | ... des Sehens ... | ... des Hörens ... | |
Mobilität | |||
Sehen | |||
Hören | |||
Rheuma | |||
Epilepsie | |||
Herzkrankheiten |
Tabelle 1: Auftreten von Mehrfachbehinderungen [1].
Syndrome
Unter einem Syndrom[1] wird das Zusammentreffen mehrerer Krankheitszeichen (Symptomen) verstanden, die für ein bestimmtes Krankheitsbild charakteristisch sind. Dabei ist die Krankheitsursache (Ätiologie) zwar meist einheitlich, der Krankheitsverlauf (Pathogenese) jedoch unbekannt.
Down-Syndrom
Das Down-Syndrom[2] (auch Trisomie oder Morbus Langdon-Down)[3] entsteht durch eine chromosomale Störung, bei der bei der Befruchtung oder einer der nachfolgenden Zellteilungen ein zusätzliches drittes Chromosom (daher Trisomie )[4] in den Körperzellen auftritt und von da an bei jeder weiteren Zellteilung weitergegeben wird[5]. Das Down Syndrom führt zu einer Fehlentwicklung fast sämtlicher Gewebe und Organe des heranreifenden Organismus. Man unterscheidet zwei Typen von Down-Syndrom:Freie (vollständige) Trisomie
Das zusätzliche Chromosom existiert bereits als . Chromosom in einer der Keimzellen und ist daher als freies drittes Chromosom in allen Körperzellen enthalten (Abbildung 1).Mosaik-Down-Syndrom
Samen- und Eizelle enthalten die korrekte Zahl von Chromosomen. Der Chromosomen-Fehler tritt erst bei einer der ersten Zellteilungen auf. Daher gibt es sowohl Zellen mit als auch solche mit Chromosomen. Diese Form tritt bei etwa der Kinder mit Down-Syndrom auf (Abbildung 2).
Abgesehen von Deformationen und Veränderungen im Habitus sind folgende Symptome für das Down-Syndrom charakteristisch:
- Geistige Behinderung unterschiedlichen Ausmaßes.
- Sprechstörung (hoher Gaumen, große Zunge, Zahnfehlstellungen).
- Muskelhypotonie.
Parkinson-Syndrom
Das Parkinson-Syndrom[6] ist die häufigste neurologische Erkrankung des fortgeschrittenen Alters, von der vorwiegend Männer betroffen werden. Es handelt sich um ein extrapyramidales Syndrom zufolge einer Degeneration von Neuronen im Mittelhirn (Substantia nigra) [2].Die mit dem Parkinson-Syndrom verbundenen Symptome sind in erster Linie:
- Leise und monotone Sprache
- Verlangsamung und Verkürzung von Bewegungen und Bewegungsstörungen (langsamer, schlurfender Gang, kleine Handschrift, Fallneigung)
- Steifigkeit der Muskulatur
- Ruhetremor (Zittern der Muskulatur in Ruhestellung mit bis Bewegungen pro Sekunde). Bei willkürlichen Bewegungen setzt der Tremor aus, die Handschrift ist daher nicht zittrig.
Gregg-Syndrom
Gregg-Syndrom (Rötelnembryopathie, Embryopathia rubeolosa), Fehlbildungssyndrom nach Rötelninfektion der Mutter während der ersten drei Schwangerschaftsmonate [2]. Die dabei auftretenden Anomalien richten sich nach dem Zeitpunkt der Rötelninfektion (Tabelle 2).Schwangerschaftsmonat Schwerpunkt der Anomalien Auftretende Symptome Augen kongenitaler Grauer Star (Cataracta congenita) fakultativer Grüner Star (Glaukom) kleine Augen (Mikrophthalmie) Augenhintergrundveränderungen (pseudo-RP) Herz Herzscheidewanddefekte ZNS geringes Hirnvolumen (Mikrozephalie) Retardierung, Epilepsie Bewegungsstörungen Innenohr sensorineurale Schwerhörigkeit Tabelle 2: Anomalien bei Gregg-Syndrom [2].
Rett-Syndrom (RS)
Das Rett-Syndrom[7] ist eine bisher nur bei Mädchen beobachtete, wahrscheinlich X-chromosomal-dominant vererbte Erkrankung, in deren Verlauf es neben Hirnatrophie (Schwund des Nervengewebes im Gehirn) auch zu anderen Veränderungen im Gehirn kommt. Die Manifestation erfolgt zwischen dem Lebensmonat und dem Lebensjahr. Die Auswirkungen sind:- Epilepsie
- Verzögerungen im Wachstum
- Verlust bereits erworbener Fähigkeiten
- Stereotype Handbewegungen (waschend, knetend)
- Gangstörungen (breitbeinig, steif)
- Apraxie (betrifft auch Sprechorgane und Augenbewegungen)
- Verlust der verbalen Kommunikation
Usher-Syndrom
Das Usher-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung mit den wesentlichen Symptomen:- Progrediente Schwerhörigkeit im Kinder- und Jugendalter
- Retinopathia pigmentosa (Retinitis pigmentosa), kommt Jahre später hinzu
- Ausfall des Nervus vestibularis (Teil des Nervus vestibulocochlearis = VIII. Hirnnerv, der das Gleichgewichtssystem (Vestibularapparat) innerviert.
- Epileptische Anfälle (möglich)
Das Usher-Syndrom ist eine der Hauptursachen für Taubblindheit.
Wachkoma (PVS) und Locked-in Syndrom
Mit Wachkoma (Apallisches Syndrom, Coma vigile, Persistent Vegetative State – PVS) wird ein klinischer Zustand bezeichnet, bei dem sich der Patient / die Patientin in einer vollständigen Wahrnehmungslosigkeit über sich und seine / ihre Umwelt befindet. Die autonomen Funktionen des Hypothalamus und des Hirnstammes bleiben vollständig oder teilweise erhalten. Ein EEG ist vorhanden und im weiteren Verlauf normal. Allerdings fehlt bei visueller Stimulation die sonst übliche Blockierung der alpha Wellen. Die Patienten und Patientinnen weisen einen natürlichen Schlaf-Wach-Zyklus auf. Trotzdem gibt es keine Anzeichen eines reproduzierbaren, zielgerichteten oder willentlichen Verhaltens als Reaktion auf visuelle, taktile, auditive oder noxische Reize [3].Das Wachkoma ist deutlich von verwandten Zuständen wie Locked-in Syndrom, Koma, Gehirntod oder schwerer Demenz zu unterscheiden (siehe dazu die auch Zusammenstellung in Tabelle 3):
- Koma: Tiefe Bewusstlosigkeit, die länger als eine Stunde andauert.
- Gehirntod: Permanentes Fehlen jeglicher Gehirntätigkeit, auch der des Hirnstammes.
- Locked-in Syndrom: Bewusstsein und Wahrnehmung ist vorhanden, kann aber nicht erwidert werden. PET Scans zeigen wesentlich höhere metabolische Werte als bei PVS.
- Demenz: Progressiver, multidimensionaler Verlust von kognitiven Funktionen. Ein Fortschreiten bis in einen PVS als Endstadium ist möglich.
Zustand Selbstwahrnehmung Schlaf-Wach-Zyklus Motorische Funktionen Wahrnehmung des Leidens Atmung EEG Aktivität Gehirn-Stoffwechsel Wachkoma fehlt intakt keine kontrollierte Bewegung nein normal delta oder theta, manchmal alpha um oder mehr reduziert Koma fehlt fehlt keine kontrollierte Bewegung nein reduziert, verschieden delta oder theta um oder mehr reduziert Gehirntod fehlt fehlt keine oder nur spinale Reflexe nein fehlt kein EEG fehlt Locked-in Syndrom vorhanden intakt vollständige Lähmung, nur Augenbewegungen ja normal normal oder geringe Abweichung geringfügig reduziert Demenz vorhanden, geht später verloren intakt unterschiedlich, progressive Abnahme ja, jedoch abnehmend normal verlangsamt unterschiedlich reduziert Tabelle 3: Wachkoma (PVS) und verwandte Zustände [3].
Bei den Ursachen, die zu einem Wachkoma führen können, unterscheidet man zunächst zwischen akuten Ursachen auf der einen und kongenitaler bzw. degenerativen Ursachen auf der anderen Seite [3].
Die akuten Ursachen können sowohl einen traumatischen Hintergrund (Schädelhirntrauma z. B. durch Unfall oder Schussverletzung) als auch nicht traumatische Hintergründe (Hypoxie durch Kreislaufstillstand oder Ertrinken, Gehirnschlag, Meningitis, Tumore oder Vergiftungen) haben. Die statistische Entwicklung von Patienten / Patientinnen mit PVS Monate nach einer akuten Ursache ist in Abbildung: Modell für die Produktion gesprochener Sprache dargestellt. Zu beachten ist, dass die Prognosen sowohl zwischen traumatischen und nicht-traumatischen Auslösern als auch zwischen Erwachsenen und Kindern große Unterschiede aufweisen. Abbildung: Modell für die Produktion gesprochener Sprache zeigt außerdem für jenen Teil der Personen, die innerhalb eines Jahres aus dem PVS erwachen, die Wahrscheinlichkeit und den Grad einer zu erwartenden Behinderung [4, 3].
Zu den nicht-akuten Ursachen für ein Wachkoma zählen einerseits zahlreiche Missbildungen im Gehirn wie Anenzephalie (Fehlen wesentlicher Gehirnteile), Mikroenzephalie (kleines Gehirn), Hydranenzephalie (Umbildung des Großhirns in eine Flüssigkeitsblase) und angeborener Hydrozephalus. Andererseits können bei Erwachsenen Erkrankungen wie Alzheimer, Creutzfeldt-Jacob, Chorea Huntington, Parkinson oder Multi-Infarkt-Demenz in einen PVS führen. Bei Kindern können Gangliosidosen (Lipidspeicherkrankheiten) eine Ursache für ein Fallen ins Wachkoma darstellen [3].
Die Häufigkeit des PVS wird sehr unterschiedlich angegeben und schwankt zwischen bis auf EW. Nur der geringere Teil hat traumatische Ursachen [5]. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass eine eindeutige Diagnose oft sehr schwer ist und Fehldiagnosen bis zu der untersuchten Fälle ausmachen können [6].
Beim Locked-in Syndrom sind die Patientinnen und Patienten bei Bewusstsein, aber ohne jegliche Bewegungsmöglichkeit. Bei der „klassischen“ Form, bleiben die vertikalen Augenbewegungen und der Lidschlag erhalten, und können mit geeigneten Interfaces für Kommunikationszwecke verwendet werden. Beim „totalen“ Locked-in Syndrom fehlen auch diese Bewegungen und eine Kommunikation ist – wenn überhaupt – nur über die Auswertung des EEG (Brain Computer Interface) möglich.
Als Ursachen für Locked-in Syndrom werden genannt: fortgeschrittene ALS, Hirnstamm Infarkt, Infarkt in der Brücke (Pons, Verbindung der beiden Gehirnhälften), beidseitiger Infarkt der inneren Kapsel (Capsula interna – tief liegender Teil des Gehirns), Tumore, Enzephalitis (Entzündung des Gehirns) und Schädelhirntrauma [7, 8].
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- Autor: Dr. Wolfgang L. Zagler
- Titel: Rehabilitationstechnik
- Datum: 1. März 2008
- Ort: Wien, Österreich
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Fußnoten
Syndrom: von grie. mitlaufend, begleitend. ↩︎
John L. Down, englischer Arzt, . ↩︎
Die frühere übliche Bezeichnung „Mongolismus“ gilt heute als diskriminierend und soll daher vermieden werden. ↩︎
Neben der Trisomie sind noch andere autosomale Trisomien mit Beteiligung der Chromosomen , , , , und bekannt. Bei den Geschlechtschromosomen kann es zu genosomalen Trisomien (XXY und XYY) kommen. ↩︎
Dass eine Chomosomenstörung die Ursache für das Down-Syndrom ist, wurde zwar schon um vermutet, der Beweis dafür konnte aber erst vom Franzosen Jérôme Lejeune erbracht werden. ↩︎
James Parkinson, englischer Chirurg und Paläontologe, . ↩︎
Andreas Rett, österreichischer Kinderarzt. ↩︎
Abkürzungsverzeichnis
- ALS
- Amyotrophe Lateralsklerose
- EEG
- Elektroenzephalographie
- EW
- Einwohner
- PET
- Positronen-Emissions-Tomographie
- PVS
- Persistent Vegetative State
- RS
- Rett-Syndrom
- ZNS
- Zentralnervensystem
- z. B.
- zum Beispiel
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Chromosomen-Weitergabe bei Down-Syndrom (vollständige Trisomie ).
Abbildung 2: Chromosomen-Weitergabe bei Mosaik-Down-Syndrom. Die weiß dargestellte Zelle mit Chromosomen ist nicht lebensfähig und stirbt ab [9].
Abbildung 3: Prognose für Menschen mit PVS nach Monaten; für den Anteil, der wieder das Bewusstsein erlangt, ist der Grad der zu erwartenden Behinderungen angegeben [9, 10].
Tabellenverzeichnis
Quellenverzeichnis
[1]: Issues in Telecommunication and Disability (Tetzchner Stephen, ISBN: 9789282631287)
[2]: Pschyrembel Klinisches Wörterbuch (Willibald Pschyrembel, ISBN: 9783110148244, DOI: 10.1515/9783112328545)
[3]: Medical Aspects of the Persistent Vegetative State (on Multi-Society Task Force PVS, DOI: 10.1056/NEJM199406023302206, PMID: 8177248)
[4]: Neuropathological Findings in the Brain of Karen Ann Quinlan -- The Role of the Thalamus in the Persistent Vegetative State (Hannah C. Kinney, Julius Korein, Ashok Panigrahy, Pieter Dikkes, Robert Goode, DOI: 10.1056/nejm199405263302101)
[5]: Recovery of patients after four months or more in the persistent vegetative state. (K Andrews, DOI: 10.1136/bmj.306.6892.1597)
[6]: Misdiagnosis of the vegetative state: retrospective study in a rehabilitation unit (K. Andrews, L. Murphy, R. Munday, C. Littlewood, DOI: 10.1136/bmj.313.7048.13)
[7]: Brain-computer communication: Self-regulation of slow cortical potentials for verbal communication (Andrea Kübler, Nicola Neumann, Jochen Kaiser, Boris Kotchoubey, Thilo Hinterberger, Niels P. Birbaumer, DOI: 10.1053/apmr.2001.26621)
[8]: Brain communication: Unlocking the locked in. (Andrea Kübler, Boris Kotchoubey, Jochen Kaiser, Jonathan R. Wolpaw, Niels Birbaumer, DOI: 10.1037/0033-2909.127.3.358)
[9]: Rehabilitationstechnik (Wolfgang L. Zagler - CC-NC-SA 4.0)
[10]: Medical Aspects of the Persistent Vegetative State (on Multi-Society Task Force PVS, DOI: 10.1056/NEJM199405263302107, PMID: 7818633)