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Inhaltsverzeichnis

Verbale und vokale Behinderungen

Bei der Betrachtung von Behinderungen im Bereich der verbalen Kommunikationsfähigkeit ist es wichtig, zwischen Sprache (als die verbale Basis; engl.: language) und Sprechen (als die vokale Ausdrucksform; engl.: speech) zu unterscheiden. Sprache zu verstehen und zu produzieren, ist eine Leistung unseres Gehirns. Diese Sprache lautlich oder auch durch Schrift oder Gebärden auszudrücken und somit zu kommunizieren, ist im weitesten Sinn eine Leistung unserer motorischen Fähigkeiten (Artikulation, Handmotorik etc.).

Zwischen diesen beiden klar umrissenen Gebieten befinden sich all jene neuralen Strukturen, die für die Konzeption von Bewegungen und für die Weiterleitung der Nervensignale bis zur Muskulatur zuständig sind. Sie bilden sozusagen das Bindeglied zwischen Sprache und Sprechen. Störungen in diesem Bereich lassen sich daher nicht immer eindeutig zuordnen. Außerdem können Behinderungen gleichzeitig auch die beiden Bereiche Sprache und Sprechen beeinträchtigen, sodass eine klare Einordnung in diesem Fall unmöglich ist. Eine erste Einteilung der Bereiche, in denen Störungen auftreten können, ist in Tabelle 1 wiedergegeben [1, 2].

Ebenephonetisch-phonologischsyntaktisch-morphologischsemantisch-lexikalischpragmatisch-kommunikativ
Störungmotorische und sensorische Dyslalie, phonematische StörungenDysgrammatismus, Probleme mit bestimmen Satzkonstruktioneneingeschränkter aktiver und passiver Wortschatz, seltene Wörter oft nicht paratinterpersonelle Kommunikationsstörungen im sozialen und situativen Kontext

Tabelle 1: Störungen im Komplex Sprache-Sprechen.

Behinderungen der Sprache

Behinderungen der Sprache basieren immer auf Läsionen des Gehirns oder beruhen auf einer Entwicklungsstörung, die den Spracherwerb verzögert oder verhindert hat.

  1. Aphasie
    Aphasie ist zunächst der Sammelbegriff für alle nach dem Spracherwerb auftretenden Schädigungen, die den Bereich der sprachlichen Kommunikation betreffen. Sie können sich sowohl in der Perzeption als auch in der Produktion von Sprache auswirken. Unter Aphasie (wörtlich Sprachlosigkeit) im engeren Sinn wird jedoch meistens eine Störung der Sprachproduktion bei erhaltener Funktion der zum Sprechen benötigten Organe und Muskulatur verstanden.

    Aphasie betrifft oft auch die geschriebene Sprache und manchmal das Ausdrücken von Gesten bzw. die Verwendung von Symbolen. In diesem Sinne ist Aphasie eine multimodale Behinderung [1, 3]. Aphasie kann auch die Fähigkeit des Verstehens und Produzierens von Gebärdensprache betreffen, wie an gehörlosen Personen mit Läsionen der Sprach-Areale festgestellt wurde [4, 5, 6]. Als Häufigkeit für westliche Länder werden Werte von rund 4 aus 1000 angegeben (Statistiken aus UK und USA) [2].

    Einfache, kurze und häufig verwendete Wörter, die bereits früh im Leben erlernt wurden, haben die höchste Wahrscheinlichkeit trotz Aphasie noch beherrscht zu werden. Problematisch sind in jedem Fall abstrakte Wörter, komplexe syntaktische Konstruktionen und die passive Form [5, 6].

    Klinisch wird Aphasie üblicherweise wie folgt klassifiziert, obwohl hinsichtlich der Terminologie unterschiedliche Auffassungen bestehen (Zusammenfassung siehe Tabelle 2) [7, 8, 1]:

    Amnestische AphasieWernicke-Aphasie
    Sensorische A.
    Broca-Aphasie
    Motorische A.
    Globale Aphasie
    Sprachproduktionmeist flüssigflüssigerheblich verlangsamtSpärlich bis Null, auch Sprachautomatismen
    Artikulationmeist nicht gestörtmeist nicht gestörtoft dysarthrischmeist dysarthrisch
    Prosodiemeist gut erhaltenmeist gut erhaltenoft nivelliert, auch skandierendoft nivelliert, bei Automatismen meist gut erhalten
    Satzbaukaum gestörtParagrammatismus (Verdopplungen und Verschränkungen von Sätzen und SatzteilenAgrammatismus (nur einfache Satzstrukturen, Fehlen von Funktionswörtern)nur Einzelwörter Floskeln, Sprachautomatismen
    WortwahlErsatzstrategien bei Wortfindungsstörungen, einige semantische Paraphasienviele semantische Paraphasien, oft grob vom Zielwort abweichend, semantische Neologismenrelativ eng begrenztes Vokabular, kaum semantische Paraphasienäußerst begrenztes Vokabular, grob abweichende semantische Paraphasien
    LautstrukturEinige phonemische Paraphasienviele phonematische Paraphasien bis zu Neologismen, auch phonematischer Jargonviele phonematische Paraphasiensehr viele phonematische Paraphasien und Neologismen
    Verstehenleicht gestörtstark gestörtleicht gestörtstark gestört

    Tabelle 2: Klassifikation und Leitsymptome der aphasischen Syndrome nach Poeck, 1994 in [1].

  2. Paraphasie
    Mit Paraphasie (engl.: paraphasia) wird eine Sprachstörung bezeichnet, bei der es zu Auslassungen, Ersetzungen, Hinzufügungen oder Umstellungen kommt. Das kann auf der Ebene von Phonemen innerhalb eines Wortes (phonematische Paraphasie) oder bei Wörtern innerhalb eines Satzes (semantische oder verbale Paraphasie) geschehen.

  3. Dysphasie
    Dysphasie (engl.: dysphasia, auch specific language impairment = SLI) bezeichnet sprachliche Einschränkungen bei hirnlokalem Syndrom oder bei verzögerter Sprachentwicklung [8]. Die Einschränkungen betreffen oft in erster Linie Verben (den Erwerb, Morphologie, Wortschatz). Es werden Verben mit möglichst allgemeiner Bedeutung bevorzugt. Die Ableitung der Semantik (Erkennen der Bedeutung eines Wortes) aus der Syntax ist wenig ausgeprägt [9].

  4. Agrammatismus, Dysgrammatismus
    Agrammatismus ist eine Störung der grammatikalisch richtigen Ausdrucksweise (Satzbaustörung) nach abgeschlossener Sprachentwicklung. Das Sprechen erfolgt in einfachen, fehlerhaften und oft kurzen Ausdrücken (im Telegrammstil). Konjugationen und Deklinationen fehlen, oft wird der Infinitiv verwendet. Agrammatismus bezeichnet das vollständige Fehlen von Syntax in sprachlichen Äußerungen. Mildere Formen (vor allem bei Grammatik-Störungen im Kindesalter) werden als Dysgrammatismus bezeichnet Auftreten bei motorischer Aphasie (siehe oben) und geistigen Behinderungen.

  5. Alexie, Dyslexie
    Dyslexie wird als verallgemeinerter Begriff für eine Teilleistungsschwäche beim Lesen bei sonst normaler Gesamtintelligenz verwendet. Im deutschsprachigen Raum wird dafür meist die Bezeichnung Legasthenie bzw. Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) verwendet. Bei den betroffenen Kindern fallen etwa ab der zweiten Schulstufe Verwechslungen von Graphemen[1], fehlerhafte Orthographie und vermindertes Leseverständnis auf. Von Legasthenie verschiedenen Grades sind zwischen 6 und 10% der Kinder betroffen [8]. Nach einer Umfrage unter den 700 behinderten Studierenden der Universität Glasgow stellen Personen mit Dyslexie die größte Gruppe dar [10]. Die Gründe sind bis heute nicht geklärt, es werden jedoch sowohl genetische als auch soziale Einflussfaktoren vermutet [8].

    Bei Legasthenie muss beachtet werden, dass Lese- und Rechtschreibstörung sowohl gemeinsam als auch voneinander getrennt auftreten können. In der Regel ist das Rechnen nicht beeinflusst. Liegt eine gänzliche Unfähigkeit zu lesen vor, spricht man von Alexie. Scheitert das Lesen am mangelnden Erkennen von Buchstaben, liegt eine sogenannte Oberflächenalexie (literale Alexie) vor. Werden hingegen Wörter nicht erkannt, handelt es sich um eine Tiefenalexie oder verbale Alexie.

    Die Diskussion über Dyslexie macht es deutlich, wie leicht wir dazu neigen, im Sinne einer „Defektologie“ vorzugehen und von Schädigungen und Schwächen zu reden ohne über Vorteile und Stärken nachzudenken. Personen mit Dyslexie weisen zweifellos eine Schwäche beim Verbalisieren auf, zeigen aber in der Regel Stärken beim Visualisieren und beim Umgang mit bildlichen Darstellungen von Sachverhalten. Schwächen auf der Seite des Konstruktiven stehen Stärken beim analytischen Denken gegenüber. Möglicherweise waren es gerade diese Schwerpunktsverschiebungen, die dyslexische Personen wie Faraday oder Einstein zu den wissenschaftlichen Leistungen befähigt haben, die sie von anderen unterscheidet [11].

  6. Akalkulie, Dyskalkulie
    Eine Teilleistungsschwäche beim Umgang mit Zahlen wird als Dyskalkulie oder Arithmasthenie bezeichnet. Liegt eine gänzliche Unfähigkeit zu rechnen vor, spricht man von Akalkulie.

  7. Agraphie
    Ähnlich wie das Lesen kann auch das Schreiben durch eine Teilleistungsschwäche betroffen sein. Eine Unfähigkeit zu Schreiben bei intakter Handmotorik und normaler Intelligenz wird als Agraphie bezeichnet.

Behinderungen des Sprechens

Ein schwaches respiratorisches System wirkt sich auf die Lautstärke und die Ausdauer der lautlichen Äußerungen aus. Störungen im Kehlkopfbereich verursachen hauchige, heisere, leise, flüsternde oder verlangsamte Aussprache. Fehlfunktionen des weichen Gaumens resultieren entweder in zu nasaler Artikulation oder im Fehlen von Nasallauten. Ist das vordere Artikulationssystem (Zunge, Kiefer, Lippen) beeinträchtigt, kommt es zu verwaschener, langsamer, unpräziser oder unkoordinierter Aussprache. Andere Artikulationsstörungen können zu unterschiedlichen Tonhöhen, schwankender Lautstärke, zu hoher Sprechgeschwindigkeit oder zu Störungen im Sprechrhythmus (Poltern, Stottern) führen.

  1. Dysarthrie, Anarthrie
    Sprechstörung durch Lähmung oder Koordinationsstörung der Sprechmuskulatur infolge einer Schädigung der Hirnnerven [12]. Der gesamte Komplex der oben beschriebenen Stimmbildungsstörungen wird mit Dysarthrie (engl.: dysarthria oder dysarthrias) bezeichnet. Dysarthrie kann u. a. in der Folge von Zerebralparese, Muskeldystrophie, Apoplexie (Gehirnschlag), Parkinson-Syndrom, amyotropher Lateralsklerose (ALS), multipler Sklerose (MS), Chorea Huntington, Gehirntumoren, Myasthenia gravis, bzw. nach Schädelhirntrauma, Vergiftungen oder Drogenmißbrauch auftreten.

    Anarthrie bezeichnet die stärkste Form der Dysarthrie, bei der eine gezielte Artikulation von Lauten und Satzelementen nicht möglich ist [12]. Zerebrale Schädigungen, die Dysarthrie oder Anarthrie hervorrufen, verursachen oft auch Bewegungsstörungen, die es verhindern, dass die betroffene Person kontrollierte Gesten ausführen kann. Das stellt ein zusätzliches Kommunikationshindernis dar [12].

  2. Aphonie, Dysohonie
    Das vollständige Versagen der Phonation (Stimmbildung) wird als Aphonie bezeichnet. Stimmstörungen (heisere, belegte, raue Stimme) und Einschränkung der Stimmleistung wird Dysphonie genannt. Ursachen sind neben psychischen Einflüssen (Schock, Stress) verschiedene Anomalien und Erkrankungen des Kehlkopfes (auch zufolge Verletzung oder Intubation).

Störungen im Grenzgebiet zwischen Sprache und Sprechen

Störungen, die in das Grenzgebiet zwischen Sprache und Sprechen fallen, also im Übergang von der in Wörtern gedachten Sprache zur Lautbildung (Zuweisung von Phonemen) zu suchen sind, werden hier bewusst bei den Sprechstörungen behandelt. Obwohl ihre Ursachen noch vor der eigentlichen Artikulation liegen, geschieht das deshalb, weil hier zum Einsatz gelangende Hilfsmittel nicht die Sprache selbst, sondern die Aussprache unterstützen müssen.

  1. Dyslalie
    Mit Dyslalie (auch Stammeln; engl.: dyslalia) wird eine Störung der Artikulation verstanden, bei der Phoneme verändert oder durch andere ersetzt werden. Die Ursachen dafür können u. a. zentrale Sprachstörungen und verzögerter Sprachentwicklung sein.

  2. Echolalie
    Echolalie bezeichnet das zwanghafte wörtliche oder auch abgewandelte Nachsprechen von gehörten oder gesagten Wörtern und Sätzen ohne Rücksicht auf den Inhalt oder die Situation. Sie ist bei Kindern zwischen erstem und zweitem Lebensjahr Teil der natürlichen Sprachentwicklung, später jedoch Zeichen einer Sprachstörung.

  3. Bradylalie
    Unter Bradylalie (auch Bradyarthrie oder Bradyglossie) wird eine z. B. bei multipler Sklerose zu beobachtende Verlangsamung des Sprechtempos verstanden.

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Zitierung

Benützen Sie folgende Informationen, um dieses Buch zu zitieren.

  • Autor: Dr. Wolfgang L. Zagler
  • Titel: Rehabilitationstechnik
  • Datum: 1. März 2008
  • Ort: Wien, Österreich
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Fußnoten

  1. Graphem bezeichnet die kleinste bedeutungstragende Einheit der geschriebenen Sprache. ↩︎


Abkürzungsverzeichnis

ALS
Amyotrophe Lateralsklerose
LRS
Lese- und Rechtschreibstörung
SLI
Specific language impairment
u. a.
unter anderem
USA
United States of America
z. B.
zum Beispiel

Tabellenverzeichnis

  • Tabelle 1: Störungen im Komplex Sprache-Sprechen.

  • Tabelle 2: Klassifikation und Leitsymptome der aphasischen Syndrome nach Poeck, 1994 in [1].


Quellenverzeichnis

  • [1]: Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen (Gerhard Böhme, ISBN: 9783437210181)

  • [2]: Practical Simplification of English Newspaper Text to Assist Aphasic Readers (John Carroll, Guido Minnen, Yvonne Canning, Siobhan Devlin, John Tait, Accessed: 2002-04-29)

  • [3]: AUSWEGE - A Computerized Language Therapy Program (Hanspeter Gadler)

  • [4]: Sprache und Gehirn (Antonio R. Damasio, Hanna Damasio)

  • [5]: The Application of Assistive Technology in Facilitating the Comprehension of Newspaper Text by Aphasic People (Siobhan Devlin, John Tait, Yvonne Canning, John Carroll, Guido Minnen, Darren Pearce)

  • [6]: Making accessible international communication for people with language comprehension difficulties (Siobhan Devlin)

  • [7]: Das Puzzlespiel der Neuronen (Claudia Eberhard-Metzger)

  • [8]: Pschyrembel Klinisches Wörterbuch (Willibald Pschyrembel, ISBN: 9783110148244, DOI: 10.1515/9783112328545)

  • [9]: Theory-Based Software Use in Language Interventions (Wilson Mary Sweig, Pascoe Jeffrey P.)

  • [10]: Development Evaluation of a Web-Based Information Service for and about People with Special Needs (Daniela Busse, Stephen Brewster)

  • [11]: A Personal Perspective of Dyslexia (Onya McCausland)

  • [12]: Wortlos Erwachsenwerden (Jeannine Strässle)